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Nach der ersten, sehr beeindruckenden Reise im Januar 2007 nach Wolgograd stellten wir uns die Aufgabe, auch im Sinne der Sicherung von Projektergebnissen Essays zu schreiben. Wir stellten uns die Aufgabe, unsere persönlichen Eindrücke frei niederzuschreiben, also ohne die Vorgabe, bestimmte Aspekte der Begegnung zu tangieren. Hier dokumentieren wir diese Eindrücke.

Der Essay entstand im Rahmen einer Studienreise der Deutsch-Russischen Geschichtswerkstatt Hamburg nach Wolgograd (Januar/Februar 2007). Er ist Teil der Projektdokumentation.

Zunächst

Um zu verdeutlichen, wo ich meine persönliche Aufgabe im Projekt sehe, möchte ich zunächst erläutern, was mich dazu bewegt hat, an der Geschichtswerkstatt teilzunehmen.

Ich war auf der Suche nach einer Möglichkeit, mich nach einigen Jahren wieder ehrenamtlich intensiv mit Russland beschäftigen zu können. Ich wollte mein Bild über das Land erweitern. Aufgrund meines großen geschichtlichen Interesses kam das Angebot, an der Geschichtswerkstatt teilzunehmen, wie gerufen. Es war eine gute Gelegenheit, mich an historischer Arbeit zu beteiligen, was mir im Rahmen meines Fernstudiums sonst nicht möglich ist. Mich interessierten zudem das Entstehen eines Geschichtsprojekts und die Arbeitsweise der Gruppe.

Um von Beginn an einen konstruktiven Beitrag zu leisten, habe ich anhand der Erstellung eines internetgestützten Forums zur übersichtlichen Kommunikation und mit Quellenrecherche mitgeholfen, eine gute Arbeitsgrundlage zu schaffen.

Ich hatte vor unserer Reise stets ein bestimmtes Bündel von Bildern vor meinem inneren Auge, wenn ich „Stalingrad“ hörte. Schon während meiner längeren Aufenthalte in Russland versuchte ich, das sich auf Stalingrad beziehende und in beiden Ländern existierende Paradigma von Bildern, Attributen bzw. Wertungen zu begreifen.

Drei Perspektiven

Die Möglichkeit hierfür bot die erste Reise. Die Projektreise stand die ganze Zeit im Zeichen des Themas. Nun hatten wir aber auch die Möglichkeit, das Leben der Menschen in Wolgograd abseits der Geschichte kennen zu lernen und zu beobachten. Es stellte sich mir immer wieder die Frage, inwieweit die Geschichte des Ortes die Bewohner der Stadt im Alltag begleitet, inwieweit (wie oft, wie intensiv...) sich die Bevölkerung überhaupt bewusst mit der Geschichte auseinandersetzt, welchen identitätsstiftenden Rang die Schlacht von Stalingrad einnimmt. Mein Eindruck ist, dass die Schlacht allgegenwärtig ist, sowohl im Stadtbild als auch im (Unter-)Bewusstsein der Menschen.

Man könnte neben der deutschen und der Wolgograder Sichtweise auf die Geschichte vielleicht noch eine dritte hinzuziehen: die Sichtweise der Russen, die keine persönlichen Bindungen zu Wolgograd haben. Könnte man hierin selbst innerhalb Russlands Unterschiede erkennen und aufzeigen?

Es würde mich sehr interessieren, dieser Problematik mit der Gruppe weiter auf den Grund zu gehen.

Mehrere Orte

In der russische Perspektive, so glaube ich, ist „Stalingrad“ eng mit „Wolgograd“ verknüpft, während in Deutschland der Name vor allem für eine schicksalsträchtige Schlacht im Zweiten Weltkrieg steht. So konnte ich mir aufgrund der russischen Sichtweise zunächst auch eine gewöhnliche russische Großstadt vorstellen. Im Gespräch mit Russen war Wolgograd stets eine Stadt unter vielen, Stalingrad hieß sie einst, nun gut, sie ist eine Heldenstadt, aber eben eine von mehreren. Sprach ich hingegen in Deutschland mit jemandem über Stalingrad, so war dies stets in die Thematik Zweiter Weltkrieg eingeordnet. Zugespitzt gesagt handelte es sich für mich, je nachdem in welcher Kultur ich mich aufhielt, um verschiedene Orte. Ich assoziierte „Stalingrad“ trotz besseren Wissens nicht völlig mit „Сталинград“ bzw. „Волгоград“.

Ein Ort

Vor Reisebeginn hatte ich mir vorgenommen, Eindrücke zu sammeln, die mir helfen würden, die Begriffe „Wolgograd“, „Волгоград“, „Stalingrad“ und „Сталинград“ als einen Ort zu begreifen, eben auch als Treffpunkt von Erinnerungsorten zweier Völker. Es wurde mir während des Aufenthaltes in Wolgograd immer bewusster, welch schweres Unterfangen dies ist. Die verschiedenen Gedenkstätten konnte ich immer nur mit sowjetischem Heldengedenken in Verbindung bringen, nicht aber mit einem Bild, von dem ich glauben könnte, dass es den Geschehnissen nahe kommt.

Nur einige Male wurde mir die tatsächliche Bedeutung des Ortes klar, konnte ich die verschiedenen Aspekte auf einen Nenner bringen: Beispielsweise beim Anblick der zerstörten Stadtmühle neben dem Panorama-Museum. Dort konnte ich mir den Krieg vergegenwärtigen soweit es mir überhaupt möglich ist, dort sah ich plötzlich (be-)greifbar, wie man sich noch vor zwei Generationen gegenseitig umbrachte, wie schwer die Geschichte tatsächlich wiegt. Ich musste dort daran denken, dass noch die Menschen unsere Großelterngeneration sich bekriegte. Eine Vorstellung, die ich wohl nie wirklich verstehen werde, dafür habe ich vielleicht zu viele persönliche Bindungen an Russland und die Menschen dort.

Die Erzählungen der Veteranen haben mir vor Augen geführt, wie wenig die Geschichte des Zweiten Weltkriegs außer Reichweite ist, auch dies hat mich sehr beeindruckt.

Die Aufgabe, die ich mir am Anfang ganz persönlich gestellt hatte, war, den Begriff Stalingrad/Wolgograd als einen Ort sehen zu können, der nicht nur sowohl den russischen und deutschen Erinnerungsort beinhaltet, sondern auch die heutige Stadt.

Ich versuchte also, die verschiedenen Bilder, Erinnerungsorte, Begriffe „unter einen Hut“ zu bekommen. Letztendlich wird für mich dieser Hut wohl unsere Reise symbolisieren, in der Erinnerung an die Studienreise werden sich all die für mich bisher voneinander getrennten Orte vereinigen.

Wie man vielleicht schon aus Obigem herauslesen kann, hat die Theorie der Erinnerungsorte bei mir bleibenden Eindruck hinterlassen, ebenso wie die Fragestellung nach sozialem, kollektivem und kulturellem Gedächtnis. Die Geschichtswerkstatt hat mein Interesse für diese für mich neuen Felder geweckt.

Die Wende

Das im engeren Sinne geschichtswissenschaftliche Thema, das mich am meisten interessiert, ist das nach der Wende des in den Zweiten Weltkrieg eingebetteten deutsch-sowjetischen Kriegs und wo/wann diese zu finden ist. Kann man mit Recht behaupten, dass die Schlacht von Stalingrad als die Wende des Krieges zu sehen ist oder muss man eine andere Schlacht heranziehen? Kann man eine bestimmte Kriegshandlung überhaupt als Wende ansehen oder sind es vielleicht vielmehr kriegsentscheidende Umstände, die eine Wende hervorrufen und somit als Wende aufzufassen sind? Was ist als Wende zu verstehen? Ist dieser Begriff überhaupt angemessen bzw. ausreichend, den „Anfang vom Ende“ des Dritten Reichs zu beschreiben? Ich möchte mich im Verlaufe der Arbeit unseres Projekts in diesen Komplex einarbeiten und hierfür zunächst den aktuellen Forschungsstand auswerten, herausfinden, welche Meinungen in Literatur und Lehre aus welchen Gründen vertreten werden und wurden.

Wo wir sind

Unsere erste Reise und ihre nun darauf folgende Auswertung sehe ich als eine Problematisierung unseres Forschungsgegenstandes an. Wir sind für Schwierigkeiten, die sich bei der Auseinandersetzung mit anderen Geschichtsauffassungen ergeben, sensibilisiert worden und können uns zukünftig besser auf diese einstellen. Wir haben unsere Partnergruppe kennen gelernt, was die wichtigste Grundlage für unsere kommende Arbeit ist. Wir konnten uns ein erstes Bild machen vom russischen und sowjetischen Gedenken an die Schlacht und wie es sich in Museen und Gedenkstätten manifestiert. All dies entspricht meinen Erwartungen an die Reise.

Aufgaben

Ich sehe die Aufgabe der Geschichtswerkstatt darin, die Existenz der (beiden oder mehreren?) verschiedenen Erinnerungsorte namens Stalingrad der jeweils anderen Seite bewusst, ihre Verschiedenhaftigkeit bekannt zu machen und sie dadurch in unmittelbare Nachbarschaft zu rücken. Diese Nachbarschaft würde zu einem erleichterten Wissens- und Meinungsaustausch führen, zumal die gegenseitige Anerkennung verschiedener Sichtweisen einen interkulturellen Diskurs fördert. Somit hat für mich das Projekt nicht nur geschichtswissenschaftlichen, sondern auch völkerverständigenden Anspruch.

Beiden Kulturen die jeweils anderen Sichtweisen näherzubringen ist eine große Aufgabe. Gerne will ich mich weiterhin daran beteiligen.

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